Die Kunst, mit allen Sinnen zu schmecken
Kulinarische Weiterbildung beim Geschmack: Die Geschmackschule
Jürgen Dollase war nicht nur Rockmusiker bei der Krautrock-Band Wallenstein, sondern gilt auch als einer der bekanntesten Restaurantkritiker Deutschlands. Sein 2005 erschienenes Buch „Geschmackschule“ ist eine interessante und spannende Einführung in die Welt der Wahrnehmung von kulinarischen Genüssen. Der Tre Torri Verlag hat das Referenzwerk jetzt in einer überarbeiteten Edition neu aufgelegt und wir haben uns inspirieren lassen.
Beneidet, gefürchtet und gelesen: Der Restaurant-Kritiker
Die Vorstellung, in den neuesten und angesagtesten Restaurants essen gehen zu dürfen und dafür auch noch bezahlt zu werden, klingt verlockend. Oftmals dabei übersehen: Ein Kritiker isst häufig allein und in einem Umfang, der ein wenig Training erfordert. Nicht immer ist das Erlebnis großartig. Wenn die feinen Zungen dann mit spitzer Feder darüber berichten, sind Kritiker für ihre deutliche Kritik oder gar harschen Verrisse gefürchtet. Unser Bild vom Restaurantkritiker prägen zwei Gestalten, die wir bei unserem Artikel „Kulinarisches Kino“ kurz skizzierten: Der kultige Louis de Funès als hektisch-cholerischer Restaurantkritiker Charles Duchemin in der Filmkomödie „Brust oder Keule“ von 1976. Oder aus jüngerer Vergangenheit die Zeichentrickfigur Anton Ego, der missmutige Kritiker aus dem Animationsfilm „Ratatouille“.
Jürgen Dollase hat eine spannende und ungewöhnliche Biographie
Jürgen Dollase hat sich seinen Status im wahrsten Sinne des Wortes systematisch angefressen. Zuvor hat der gebürtige Oberhausener Musik, Kunst und Philosophie studiert. Bei seiner anschließenden Karriere als Keyboarder der Krautrock-Band Wallenstein – die Älteren summen jetzt schon „Charline“ –, waren seine Ernährungsgewohnheiten von Pommes-Currywurst und Frikadellen geprägt. Autodidaktisch hat sich Dollase durch die Kochbücher der französischen Herdkünstler gearbeitet und mit Restaurantbesuchen praktische Erfahrungen gesammelt. Ein interessanter Lebensweg. Denn genau wie Feuilletonisten, die über Ballett und Theater schreiben, nicht tanzen und schauspielern können müssen, muss der Gastrokritiker nicht ausgebildeter Koch sein. Durch seine Arbeit für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, das Magazin Der Feinschmecker und verschiedene Fachmagazine hat er sich einen Namen erarbeitet. Dabei begreift er seine Rolle nicht nur als die des Kritikers. Mit seinem künstlerisch-akademischen Hintergrund verfasst er theoretische Schriften und vielbeachtete Bücher.
Gerade sein vor kurzem vom Tre Torri Verlag erneut aufgelegtes Buch „Geschmacksschule“ liefert einen guten Einstieg für Essbegeisterte. Das Buch richtet sich dabei nicht nur an Gourmets. Auch Leser ohne jegliche kulinarische Vorbildung gewinnen hier interessante Einblicke und erhalten wertvolle Anregungen zu noch besseren Geschmackserlebnissen. Das Buch enthält nicht nur physiologischen und psychologischen Grundlagen, sondern auch diverse einfache Rezepten mit überall erhältlichen Zutaten. Zwischendrin findet sich der ein oder andere Aspekt, mit dem sich am heimischen Herd und Tisch Freunde und Familie beeindrucken lassen.
Essen ist Geschmackssache: Was soll ich da überhaupt lernen?
Keine Sorge, das Buch will Ihnen keine Austern, Innereien oder anderes, was Sie möglicherweise nicht gerne essen, schmackhaft machen. Das Vorwort stellt klar, dass es nicht darum geht, dem Leser neue Lieblingsspeisen aufzudrängen. Dollase fokussiert sich auf die Wahrnehmung von Geschmack. Was passiert im Mund, welche Rolle spielt die Nase und was haben Augen und Ohren damit zu tun? Das Buch ist so aufgebaut, dass man als Leser kein passionierter Feinschmecker oder eingefleischter Gourmet sein muss. Die Beispiele, die der Autor zu Beginn anführt, sind so einprägsam wie das des McDonald’s-Hamburgers in seiner ersten kleinen Fallstudie. Ein Geschmacksbild, das die meisten kennen.
Geschmack? Mehr als Geschmackssinn und die Geschmacksrichtungen der Zunge
Am Anfang steht immer die – hier gar nicht so graue – Theorie. Die menschliche Zunge schmeckt die Grundgeschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami. Doch Geschmack setzt sich aus weit mehr zusammen. Denn erst wenn die Nase, der Geruchseindruck, hinzukommt, nehmen wir Aroma wahr. Einfaches Dollase-Beispiel: „Mit zugehaltener Nase schmecken wir fast gar nichts mehr.“
Es passiert noch mehr: Wir sehen Essen und finden es appetitlich und haben schon eine vage Geschmacksvorstellung – das Auge isst mit. Nicht umsonst machen uns Foodstylisten und Food-Fotografen in Magazinen und der Werbung Essen optisch schmackhaft.
Das Ohr spielt ebenfalls eine Rolle. Wenn ein neues Produkt auf den Markt kommt, beurteilen Testesser die Geräusche, die das Essen beim Hineinbeißen und Kauen macht. Von Chips, die im Mund herrlich knackig knuspern, wandert einfach eine Hand mehr in den Mund.
Direkt zu Beginn führt Dollase einen der von ihm geschaffenen Begriffe zur Beschreibung von Essen ein: Textur. Im Mund nehmen wir neben Geschmacksrichtungen auch die Beschaffenheit einer Speise war: weich, hart, schleimig, knackig. Dort unterscheiden wir auch, ob etwas eiskalt, kalt, warm oder zu heiß ist. Temperaturen spielen demnach ebenfalls eine Rolle.
Mit praktischen und anschaulichen Gerichten besser schmecken lernen
Nach dem verständlichen, doch theoretischen Beginn geht es praktisch weiter. Anhand einfach nachzubauender und schlüssig aufgebauter Löffelgerichte lernt der Leser die einführende Theorie schmackhaft, schlüssig und reproduzierbar kennen und umzusetzen.
Dollase listet die Zutaten auf und erläutert die Zubereitung. Dazu liefert er jeweils in allgemeinverständlicher Sprache eine Degustationsnotiz über die sensorischen Eindrücke. Dabei erklärt er den Geschmack, also das Zusammenwirken von Aroma, Textur und Temperatur. Das funktioniert auch am Beispiel einer Scheibe Bratkartoffel mit Gewürzgurke, einem Stück Bratwurst und Ketchup – keine Spur von abgehobener Luxusküche!
Zur besseren Verständlichkeit sind die Geschmacksverläufe grafisch anschaulich dargestellt. Was auf den ersten Blick wie Funktionen aus dem Mathe-Unterricht aussieht, gibt wider, was genau passiert und wann und wie lange wahrzunehmen ist. Beim Geschmack greift ein Rädchen ins andere.
Im Laufe der Jahre hat Dollase eine eigene Sprache beim Essen entwickelt, wie es sie bereits beim Wein gibt. Ganz den Musiker in sich kann er nicht abstellen, wenn er von Akkorden, und Sustain, dem Nachhall, spricht. Als Leser versteht man jederzeit, was er meint.
Kulinarische Überlegungen und immer ein paar praktische Tipps
Dollase regt an, am heimischen Herd ruhig mutig vorzugehen und sich auszuprobieren. Mit einfachen Handgriffen gewinnen wir dem Gewohnten neue Seiten ab, wenn wir das Olivenöl vor Gebrauch ins Eisfach stellen und eiskalt verwenden. Temperatur und Konsistenz sorgen für ganz neue köstliche Aspekte, weil wir das Öl präziser wahrnehmen, wenn es sich langsam erwärmt. Da können wir unsere Granita wieder ins Spiel bringen. Ob aus Ginger Ale und Sekt oder ganz außergewöhnlich mit Tzatziki-Aromen: Der Effekt ist echt cool!
Ein knuspriges Element verleiht vielen Gerichten Spannung: geriebene Nüsse, krosse Haut oder ein Gemüsechip. Statt für knusprige Textur zu sorgen, kann es ebenso spannend sein, ein mildes Fisch- oder Gemüsegericht ohne bissfeste Elemente zuzubereiten.
Ähnlich sein Umgang mit Tomaten. Aus Tomaten und wenigen Zutaten wird ein abwechslungsreiches Gericht, weil ein Teil der Tomaten mariniert ist, ein anderer erwärmt und wieder ein anderer eiskalt aus dem Kühlschrank kommt. Simpel und doch wirksam.
Kreativ und nachhaltig Dollases Ansatz bei Gemüsen. Sich immer die Frage stellen: roh essen, marinieren, dünsten, kochen, backen, frittieren, braten? Dabei kann man viel mehr Teile verwenden als man denkt: Beim Blumenkohl schmecken nicht nur die Röschen, sondern ebenfalls der Stiel und die blanchierten Blätter. Dollase spricht sich vehement gegen die gängige Praxis aus, Tomaten zu häuten und zu entkernen. Nein, in der Schale und in den Kernen stecke ein Großteil des Geschmacks.
Ein empfehlenswertes und appetitanregendes Buch, das die „kulinarische Intelligenz“ schult. Und Lust auf Genuss macht – das ist doch genau nach unserem Geschmack.
Ihr Mumm Sekt-Team
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